Stationen

Freitag, 1. Januar 2010

Wahrheit

Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte
den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,
dass ich, erwacht, aus meiner Hütte
den Berg hinauf mit frischer Seele ging;
ich freute mich bei einem jeden Schritte
der neuen Blume, die voll Tropfen hing;
der junge Tag erhob sich mit Entzücken,
und alles war erquickt, mich zu erquicken.

Und wie ich stieg, zog von dem Fluss der Wiesen
ein Nebel sich in Streifen sacht hervor,
er wich und wechselte, mich zu umfließen,
und wuchs geflügelt mir ums Haupt empor.
Des schönen Blicks sollt´ ich nicht mehr genießen,
die Gegend deckte mir ein trüber Flor;
bald sah ich mich von Wolken wie umgossen
und mit mir selbst in Dämmrung eingeschlossen.

Auf einmal schien die Sonne durchzudringen,
im Nebel ließ sich eine Klarheit sehn.
Hier sank er, leise sich hinabzuschwingen;
hier teilt´ er steigend sich um Wald und Höhn.
wie hofft´ ich ihr den ersten Gruß zu bringen!
Sie hofft´ ich nach der Trübe doppelt schön.
Der luftge Kampf war lange nicht vollendet,
ein Glanz umgab mich, und ich stand geblendet.

Bald machte mich, die Augen aufzuschlagen,
ein innrer Trieb des Herzens wieder kühn,
ich konnt´ es nur mit schnellen Blicken wagen,
denn alles schien zu brennen und zu glühn.
Da schwebte, mit den Wolken hergetragen,
ein göttlich Weib vor meinen Augen hin,
kein schöner Bild sah ich in meinem Leben,
sie sah mich an und blieb verweilend schweben.

"Kennst du mich nicht?" sprach sie mit einem Munde,
dem aller Lieb´ und Treue Ton entfloss,
"Erkennst du mich, die ich in manche Wunde
des Lebens dir den reinsten Balsam goss?
Du kennst mich wohl, an die, zu ewgem Bunde,
dein strebend Herz sich fest und fester schloss.
Sah ich dich nicht mit heißen Herzenstränen
als Knabe schon nach mir dich eifrig sehnen?"

"Ja!" rief ich aus, indem ich selig nieder
zur Erde sank, "lang hab ich dich gefühlt:
du gabst mir Ruh, wenn durch die jungen Glieder
die Leidenschaft sich rastlos durchgewühlt;
du hast mir wie mit himmlischem Gefieder
am heißen Tag die Stirne sanft gekühlt;
du schenktest mir der Erde beste Gaben,
und jedes Glück will ich durch dich nur haben!

Dich nenn ich nicht. Zwar hör ich dich von vielen
gar oft genannt, und jeder heißt dich sein,
ein jedes Auge glaubt auf dich zu zielen,
fast jedem wird dein Strahl zur Pein.
Ach, da ich irrte, hatt´ ich viel Gespielen,
da ich dich kenne, bin ich fast allein;
ich muss mein Glück nur mit mir selbst genießen,
dein holdes Licht verdecken und verschließen."

Sie lächelte, sie sprach: "Du siehst, wie klug,
wie nötig war´s, euch wenig zu enthüllen!
Kaum bist du sicher vor dem gröbsten Trug,
kaum bist du Herr vom ersten Knabenwillen,
so glaubst du dich schon Übermensch genug,
versäumst die Pflicht des Mannes zu erfüllen!
Wie viel bist du von andern unterschieden?
Erkenne dich, leb mit der Welt in Frieden!"

"Verzeih mir", rief ich aus, "ich meint´ es gut.
Soll ich umsonst die Augen offen haben?
Ein froher Wille lebt in meinem Blut,
ich kenne ganz den Wert von deinen Gaben.
Für andre wächst in mir das edle Gut,
ich kann und will das Pfund nicht mehr vergraben!
Warum sucht´ ich den Weg so sehnsuchtsvoll,
wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?"

Und wie ich sprach, sah mich das hohe Wesen
mit einem Blick mitleid´ger Nachsicht an;
ich konnte mich in ihrem Auge lesen,
was ich verfehlt und was ich recht getan.
Sie lächelte, da war ich schon genesen,
zu neuen Freuden stieg mein Geist heran;
ich konnte nun mit innigem Vertrauen
mich zu ihr nahn und ihre Nähe schauen.

Da reckte sie die Hand aus in die Streifen
der leichten Wolken und des Dufts umher;
wie sie ihn fasste, ließ er sich ergreifen,
er ließ sich ziehn, es war kein Nebel mehr.
Mein Auge konnt´ im Tale wieder schweifen,
gen Himmel blickt´ ich, er war hell und hehr.
Nur sah ich sie den reinsten Schleier halten,
er floss um sie und schwoll in tausend Falten.

"Ich kenne dich, ich kenne deine Schwächen,
ich weiß, was Gutes in dir lebt und glimmt!"
So sagte sie, ich hör sie ewig sprechen,
"Empfange hier, was ich dir lang´ bestimmt!
Dem Glücklichen kann es an nichts gebrechen,
der dies Geschenk mit stiller Seele nimmt:
aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit,
der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.

Und wenn es dir und deinen Freunden schwüle
am Mittag wird, so wirf ihn in die Luft!
Sogleich umsäuselt Abendwindes-Kühle,
umhaucht euch Blumen-Würzgeruch und Duft.
Es schweigt das Wehen banger Erdgefühle,
zum Wolkenbette wandelt sich die Gruft,
besänftiget wird jede Lebenswelle,
der Tag wird lieblich, und die Nacht wird helle."

So kommt denn, Freunde, wenn auf euren Wegen
des Lebens Bürde schwer und schwerer drückt,
wenn eure Bahn ein frischerneuter Segen
mit Blumen ziert, mit goldnen Früchten schmückt,
wir gehn vereint dem nächsten Tag entgegen!
So leben wir, so wandeln wir beglückt.
Und dann auch soll, wenn Enkel um uns trauern,
zu ihrer Lust noch unsre Liebe dauern.

2 Kommentare:

  1. Der Titel dieses Gedichts ist "Zueignung". Es handelt sich also inzwischen um eine Art Vorwort,ursprünglich handelte es sich aber um die Anfangsverse eines Werks, in dem ein Ritterorden geschildert werden sollte, deren jeder einer anderen Religion angehörte, und die doch gemeinsam, um einen Bruder namens Humanus, einem sie alle vereinigenden Höheren dienen wollten, dem einen wahren Menschheitsglauben, der sich zeitlich und räumlich in verschiedenen Ausprägungen entfaltet. "Die Geheimnisse" hieß dieses Werk.

    Diese Anfangsverse stellte Goethe 1787 seiner ersten Gesamtausgabe mit dem Titel "Zueignung" voran. Es ist eins meiner Lieblingsgedichte, obwohl es dichterische Schwächen aufweist. Das Versmaß ist dasselbe des Ornaldo furioso von Ariost (das auch den "Bernescanti", den toscanischen Stegreifdichtern, vorgeschrieben ist).

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