Stationen

Samstag, 19. September 2015

Die helle Seite des Islam

Ist er gut oder böse? Kann er hierhergehören oder nicht? Für Zigtausende Muslime bedeutet Allah Frieden und Deutschland Heimat. Sechs Beispiele

Nachträgliche Vorbemerkung: Den folgenden Artikel habe ich weder zur Korrektur der Focus-Titelgeschichte "Die dunkle Seite des Islam" geschrieben noch als "PR-Gag", wie im Netz zu lesen, noch um etwas gutzumachen oder mich gar irgendwem anzudienen. Ich habe ihn geschrieben, weil es eben beide Seiten gibt. ("Jetzt", sagte ich einem muslimischen Bekannten, "sind wir quitt.") Möge Allah mit der bescheidenen Unterstützung aller Menschen guten Willens entscheiden, welche Seite die Oberhand gewinnt.


Und jetzt der Artikel:

Vor einem knappen Jahr veröffentlichte FOCUS die Titelgeschichte „Die dunkle Seite des Islam“. Nun begab sich FOCUS-Autor Michael Klonovsky auf die Suche nach der anderen Seite. Die Muslime, mit denen er sich traf, beten fünfmal am Tag, fasten im Ramadan, halten sich an die Gebote (keiner trank Alkohol) und runzelten die Stirn bei der Frage, was wäre, wenn ihre Kinder einen Nichtmuslim heiraten wollten. Hören wir ihnen zu:


Der Intellektuelle

„Ein ‚liberaler‘ Islam? Was soll das sein? Ich kann nicht liberal beten“, sagt Eren Güvercin. Man möge nicht vermischen, was nicht zusammengehöre. Der Kölner, 1980 als Sohn türkischer Eltern geboren, arbeitet als freier Journalist und ist Autor des Buches „Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation“. Was das ist? „Sie sehen sich in erster Linie als Deutsche, machen aber keinen Hehl daraus, Muslime zu sein.“

Güvercin, der Goethe und Ernst Jünger liest, ist habituell ein typischer europäischer Intellektueller, der ebenso in einem Pariser Café über Camus sprechen könnte, wie er jetzt bei einem Kölner Italiener über den Islam spricht. „Man soll kulturelle Identitäten nicht religiös erklären oder begründen“, sagt er. Türkei sei nicht gleich Islam. „Türken sind Türken. Und wie es spezielle Ausprägungen des Islam gibt, kann es auch eine deutsche Version geben.“

In der Einwanderungsfrage besteht für Güvercin ein Hauptproblem darin, „dass eine nüchterne Debatte fast unmöglich ist“. Für echte Flüchtlinge sollte Deutschland Verantwortung übernehmen. „Aber man muss die Multi-Kulti-Romantik in Frage stellen dürfen, ohne sofort regelrecht für vogelfrei erklärt zu werden.“

Den Islamismus nennt Güvercin „eine kranke Mischform aus westlich-politischem Denken und Islam“. Er beruft sich auf den Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität“ demons-triert, wie die zunehmende Ideologisierung des Islam im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Nachlassen der muslimischen Toleranz gegen Andersgläubige geführt habe.

Das Gottesbarbarentum des IS sei keineswegs ein mittelalterliches Phänomen, sondern im Gegenteil ein modernes, denn die traditionellen islamischen Rechtsschulen hätten die rigide Teilung der Welt in wahr und falsch nicht gekannt, statuiert Güvercin. Verschwunden sei leider die altorientalische Neigung zur Mehrdeutigkeit. Auch die salafistische Vorstellung, dass am Koran nichts zu interpretieren sei, entstamme der jüngeren Gegenwart. „Ohne Kommentar ist der Koran nicht zu verstehen“, erklärt Güvercin. Die Vordenker der Dschihadisten bedienten sich aus der Schrift „wie aus einem Werkzeugkasten“. Auch die Islamkritiker zögen sich heraus, was ihnen gerade passe – „da sind sie den Salafisten erstaunlich ähnlich“.

Güvercin streitet für die Unverfügbarkeit seiner Religion, wer auch immer sich anmaßt, über den Glauben bestimmen zu wollen. Über die von Saudi-Arabien finanzierte König-Fahd-Akademie in Bonn sagte er: „Warum unterbindet das der deutsche Staat nicht? Da werden Leute radikalisiert.“ Aber wenn die CDU ein Thesenpapier zum Islam vorlegt, ist ihm das ähnlich suspekt: „Was geht sie das an? Das Schlimmste wäre ein offizieller Staats-Islam mit Kirchensteuer. So etwas hat es im Islam nie gegeben.“ Überhaupt ärgeren ihn die sich ausbreitende „Gesinnungsschnüffelei“ und der „Wertezwang“. „Man ist dauernd mit irgendwelchen Gesinnungstestfragen konfrontiert, etwa wie man zur Homosexualität steht.“

Die obligate Frage, was er davon hielte, wenn seine (noch nicht vorhandenen) Kinder einen Nichtmuslim heiraten würden, beantwortet Güvercin am lockersten: „Am besten, sie heiraten jemanden, den sie lieben. Muslim kann er ja immer noch werden.“


Die Theologin

Unter dem Kopftuch trägt Tuba Isik Ohrstecker, als sie auf ihr Paderborner Lieblingsrestaurant, eine französische Brasserie, zustrebt. Was für Musik sie hört? „Och, alles querbeet, jüdische Musik, arabische, türkische, auch Pop oder moderne Klassik.“ Später wird sie beim Gespräch über Koran-Exegese auf das Thema zurückkommen. Für Strenggläubige ist Musik nämlich „haram“, verboten. „Man muss immer analysieren, in welchem Kontext Koran-Aussagen stehen. Zur Zeit des Propheten war Musik verbunden mit Freudenhäusern. Warum aber sollte Musik verboten sein, wenn sie zum Beispiel den gesegneten Freitag preist?“

Tuba Isik – ihr Vorname bedeutet auf Arabisch so viel wie Glückseligkeit – studierte Pädagogik, Rechtswissenschaften und islamisches Recht und promovierte an der Uni Paderborn in Komparativer Theologie über „Muhammad als Gesandter Gottes im islamischen Religionsunterricht“. Sie habe sich während ihres Promotionsstudiums viel mit dem Katholizismus beschäftigt, sagt die Tochter eines türkischen Theologen, die in Mainz zur Welt kam. „Mein Gottesbild hat sich weiterentwickelt im Dialog mit dem christlichen, der erbarmende Gott ist dabei in den Vordergrund getreten. Mein Gott ist ein freundlicher Gott, kein Rechnergott.“ Und der Prophet ihrer Doktorarbeit sei ein „nüchterner, geerdeter Mann“, kein Wundertäter.

„Religion sollte befreien“, sagt die junge Frau mit den vor Gescheitheit blitzenden Augen. Es sei „Migrantendenken“, sich abzukapseln. Muslime sollten offener werden für die wechselseitige Verbundenheit der Religionen, sie sollten selber theologische Texte lesen, nicht nur auf Imame und YouTube-Prediger hören. „Es geht darum, im Umgang mit Nicht-muslimen ein gesundes, tolerantes Das-bin-ich-nicht zu entwickeln und Deutschsein als das Verbindende zu erkennen. Ich will, dass wir eine Synthese aus dem Kulturellen und dem Religiösen schaffen und mit gutem Gewissen einen deutschen Islam leben.“

Das Leben mit Kopftuch kann hierzulande gleichwohl recht anstrengend sein. Nach dem 11. September, erzählt Tuba Isik, habe sie ein Mann auf offener Straße angeschrien: „Euch sollte man alle vergasen, den ganzen Iran und Saudi-Arabien!“ Da ihr nichts anderes eingefallen sei, habe sie ihn mit den Worten „Wissen Sie was: Sie haben Recht!“ zum verblüfften Schweigen gebracht.

Als ihren deutschen Lieblingsautor nennt Isik Theodor Fontane. Bevor sie nach Paderborn umsiedelte, hat sie drei Jahre in Dortmund gelebt, „aber ich war schon vorher für den BVB“. Ohne das Kopftuch, sagt sie, „bin ich 08/15. Sie hätten gar nicht mit mir reden wollen.“ Womit sie, zuletzt, denn doch ziemlich danebenliegt.


Der Journalist

Tahir Chaudhry, 25, betreibt seit zwei Jahren ein journalis-tisches Online-Portal namens „Das Milieu“, wo keineswegs nur Islamthemen behandelt werden. Die Liste der Interviewpartner reicht von Diether Dehm über Thilo Sarrazin bis zum Verfasser dieser Zeilen.

Chaudhrys Familie, muslimische Einwanderer aus Indien, lebt in einem Dorf bei Schleswig. Er studierte Philosophie und Islamwissenschaften in Kiel und ist Mitglied der Ahmadiyya Muslim Jamaat, deren Anhänger in der muslimischen Welt vielerorts als Abtrünnige gelten. Die Ahmadiy-ya strebt die islamische Weltmission an, allerdings mit ausschließlich friedlichen Mitteln. „Wenn wir den Zustand, in dem sich der Islam derzeit befindet, global verbreiteten, wäre das keine schöne Welt“, räumt Chaudhry ein. „Solange die spirituelle Dimension hinter der Politik verschwindet, wünsche ich mir keine muslimische Mehrheit.“

Dass Muslime in den Medien oder in Talkshows stets in dasselbe enge Themenspektrum gepresst werden – Einwanderung, Integration, Islam –, stört Chaudhry enorm. „Warum fragt man uns nie zur Bildungspolitik, zur Homo-Ehe, zur Außenpolitik?“

Ein konservativer Muslim, führt Chaudhry aus, lege Wert auf moralische Erziehung. Das Verhältnis der Geschlechter soll nicht auf Sex gegründet sein – man sehe ja überall, wie sexuelle Freizügigkeit Familien zerstöre. Man müsse eben nicht alles ausprobieren. Das Kopftuch gehöre zu den „Vorkehrungen für reizfreie Räume“, die der Islam schaffe, „damit sich die Geschlechter würdevoll auf Augenhöhe begegnen können“. Die Burka indes sei „unislamisch“.

Wie anständiger Journalismus funktioniert, erfuhr er als schreibender Hospitant in der Online-Redaktion einer großen linksliberalen Zeitung: In seinem Interview mit dem Oberhaupt der Ahmadiy-ya wurden skeptische Aussagen des Gottesmannes zum Klimawandel kurzerhand gestrichen.

Auf dem Höhepunkt der Pegida-Demonstrationen schlug Chaudhry mit drei anderen Ahmadis einen muslimischen Informationsstand in Dresden auf. „Ich finde die Dämonisierung der Pegida-Leute schwachsinnig“, sagt er. „Man kann mit denen reden, ich habe mich sogar mit einigen angefreundet.“ Ein andermal habe er den AfD-Gründer Bernd Lucke am Berliner Flughafen gesehen, von den Mitpassagieren sichtlich gemieden, da habe er ihn angesprochen und ihm gesagt, er möge die Muslime mehr einbeziehen. „Der konservative Muslim kann in gesellschaftspolitischer und moralischer Hinsicht nichts anderes wählen als CSU oder AfD. Und aus außenpolitischer und wirtschaftspolitischer Sicht Die Linke.“

Und wo liegt bei ihm daheim der Koran? „An einem erhöhten Platz. Übrigens unweit der Bibel.“


Der Jurist

„Nein, Sie dürfen nicht zahlen“, sagt der Kellner und hält Ausschau nach demjenigen, dem diese Pflicht offenbar obliegt. „Der Gast darf nicht zahlen.“ Es dauert eine Weile, bis der Mann akzeptiert, dass Engin Karahan heute der Gast war. Die Szene spielt im „Kilim“, einem Lokal mit schmackhafter orientalischer Küche in der Kölner Keupstraße (Wein gibt es hier leider nicht).

Karahan ist Deutsch-Türke, was für ihn konkret heißt: „Schreiben auf Deutsch, Stoßgebete auf Türkisch.“ Sein Vater war Schweißer, der Sohn hat Jura studiert. Er ging in Ludwigshafen auf dasselbe Gymnasium wie Helmut Kohl. Im Deutschunterricht rezitierte er Uhlands Kreuzzugsballade „Schwäbische Kunde“ vor der Klasse („Zur Rechten sieht man wie zur Linken,/einen halben Türken heruntersinken“), ohne sich viel dabei zu denken.

Karahan ist ein stolzer Mann mit einem hintersinnigen Lächeln. Am Gymnasium habe man ihn wegen seines Lernehrgeizes „Lexikon“ genannt, erzählt er. An der Uni wollte er es den Kommilitonen aus Juristenfamilien zeigen, die am Frühstückstisch mit ihren Vätern die aktuellsten Urteile durchsprechen konnten. Heute arbeitet der 36-Jährige als freiberuflicher juristischer Berater und Vermittler zwischen muslimischen Gemeinden und deutschen Behörden. Er ist Mitglied der islamischen Gemeinschaft Milli Görus, in deren Europazentrale er bis vor Kurzem als stellvertretender Generalsekretär fungierte – und bei den Grünen. Wie kommt ein frommer Muslim mit dem Familienbild dieser Partei klar? „Man muss nicht alles gutheißen, was im Programm steht.“ Er hat drei Kinder, seine Frau betreut sie daheim. „Ich kann mich mit dem Gedanken, windeltragende Kinder in fremde Obhut zu geben, nicht anfreunden.“

Apropos Kinder: Als Pro NRW im Wahlkampf Plakate aufhängte, auf denen eine durchgestrichene Moschee abgebildet war, habe ihn die älteste Tochter gefragt: „Papa, warum wollen die unsere Moschee kaputt machen? Hassen die Muslime?“ Die Vorstellung, dass Muslime den Westen über den Kreißsaal erobern, hält er für alarmistisch: „Mit drei Kindern bin ich in meinen Kreisen schon ein Exot.“ Die meisten Muslime passten sich den deutschen Gepflogenheiten an. Alle Bekannten, die in die Türkei gegangen waren, seien wieder nach Deutschland zurückgekehrt. „Am längsten hat es einer drei Jahre ausgehalten.“

Karahan nimmt den Gast am nächsten Tag zum Mittagsgebet mit. Er ist ein bisschen traurig über den ästhetischen Zustand vieler Moscheen, aber er rühmt diejenigen, die ehrenamtlich und mit wenig Geld diese religiösen Stätten errichtet haben. 

Was zeichnet einen guten Muslim aus? „Seiner Umwelt nicht schaden, seine Erfüllung auch im Dienst an den Menschen sehen.Fünfmal beten, aber als Unternehmer die Angestellten schlecht behandeln ist nicht islamisch.“ Ist es islamisch, über Mohammed-Karikaturen empört zu sein? „Das nervt mich!“, stoßseufzt Karahan (auf Deutsch). „Sind wir Muslime wirklich so manipulierbar und lassen uns dermaßen leicht provozieren? Gerade im Wissen über die Erhabenheit Gottes sollten wir darüber hinwegsehen.“


Der Betriebswirt

„Wie können Leute behaupten, der Islam gehöre nicht hierher?“, sagt Achim Seger, 23, und nimmt einen Schluck von seinem Früchte-Cocktail. „Wir haben doch Religionsfreiheit. Aber wenn wir uns integrieren, heißt es Islamisierung. Was sollen wir denn tun?“

Der Vater von Seger ist Ägypter, die Mutter Deutsche, aber Muslima. Seine Eltern lernten sich in einer Moschee kennen. Er selbst, erzählt der Münchner, habe überwiegend mit Nichtmuslimen zu tun, auch die Halbgeschwister beten nicht zu Allah. Freiwilligkeit ist der Dreh- und Angelpunkt seines Weltbildes, ob nun in weltlichen oder religiösen Fragen. Es soll kein Zwang im Glauben sein, steht im Koran, und das nimmt er wörtlich. „Wir Muslime wollen einladen.“

Seger ist Diplom-Betriebswirt, seine Abschlussarbeit trägt den Titel „Das islamische Riba-Verbot im Spannungsfeld der modernen Geldwirtschaft“ (Riba bedeutet Zins). Es handelt sich um eine heftige Kritik am derzeitigen Staatsgeldsystem, zu seinen Kronzeugen gehört die libertäre „österreichische Schule“ um Denker wie August von Hayek und Ludwig von Mises. Wie der Islam, so Seger, gingen diese Männer davon aus, „dass das Geldsystem auch eine spirituelle Ebene hat“. Anders gesagt: „Geldentwertung bringt auch einen moralischen Verfall mit sich.“ Wirtschaft ohne Moral führe ins Verderben. Es dürfe beim Erwägen von Alternativen zum derzeitigen Weltfinanzsystem „keine Denkverbote“ geben. Die Arbeit wurde mit „sehr gut“ bewertet.

Die „kollektive Verteufelung“ von Muslimen, wie sie auf gewissen Web-Foren praktiziert wird,  irritiert Seger. „Wohin soll das führen?“ Es herrsche „Unsicherheit und Verwirrung“. Vieles von dem, was die Pegida-Demonstranten kritisierten, sei berechtigt, „aber wir sollten nach Dingen suchen, die uns verbinden“. Und was ihn selbst betrifft: „Ich diene Allah, und wenn Allah alles ist, kann ich niemandem schaden dürfen.“


Der Seelsorger

„Islam ist, wie man sich gegen alle Geschöpfe Gottes verhält.“ Nicht nur gegenüber Muslimen? „Auf keinen Fall. Der Prophet Mohammed sagt, wenn einer satt einschläft, während der neben ihm hungert, dann ist das kein Muslim.“ Spricht Cemil Sahinöz. 

Der studierte Soziologe und Psychologe, der momentan an seiner Doktorarbeit schreibt, lebt in Bielefeld und will als Pendant zur christlichen eine muslimische Seelsorge etablieren. Für jedermann. „Ich rede auch mit Salafisten oder Neonazis.“

Sahinöz ist ein heiterer Mensch, für den die Formulierung geschaffen scheint, jemand gehe hellwach durchs Leben. Während er seinen Gast zum angesagtesten Bielefelder Kebab-Lokal führt, vereinbart er am Telefon einen Therapietermin mit einem Spielsüchtigen und macht in einem Gebetsraum Halt, um sein Nachmittagsgebet zu verrichten. Er wohne mit seiner Familie übrigens direkt neben einer Kirche, erzählt er. Das ältere seiner beiden Kinder, einen Jungen, hat er Ensar genannt, das ist Arabisch und bedeutet so viel wie: der Einheimische.

Wie erzieht ein Familienberater seine Kinder zum Islam? „Der Glaube muss aus dem Herzen kommen. Ob Kopftuch, Gebet oder Fasten: Man soll Kindern nichts vorschreiben.“ Steht das Kopftuch eher für Sitte oder eher für Religion? „Ganz klar für Religion.“ Wie würde er reagieren, wenn seine Kinder später einen Nichtmuslim heiraten oder Atheisten werden? „Jeder trifft seine Entscheidungen selbst. Der Prophet sagt: Wenn deine Eltern Atheisten sind, dann folge ihnen in allen anderen Dingen.“

Zum Beginn des Fastenmonats Ramadan treffe man sich traditionell beim ältesten Mitglied der Familie, erklärt der 34-Jährige. In seinem Fall ist es die Großmutter, und ungefähr 30 Leute versammeln sich bei ihr, eine für BioDeutsche kaum mehr vorstellbare Zahl von Angehörigen. Als Familienfest ist Ramadan so etwas wie das Gegenstück zu Weihnachten. Zum Christfest, erzählt Sahinöz, beschenke er seine deutschen Freunde, für ihn selbst sei es aber kein Feiertag. „Jede Religion feiert ihre Feste. Alles andere wäre Selbstverleugnung.“

Als Sozialpsychologe kennt Sahinöz die Probleme der Muslime mit der Mehrheitsgesellschaft, aber auch die Angst vieler Bio- Deutscher vor Gewalttätern muslimischer Abkunft. „Vor denen habe ich auch Angst“, sagt er. „Aber es ist nicht der Islam, der sie zu Gewalttätern macht.“ Das wohl nicht, aber verläuft die Konflikt-linie nicht zwischen muslimisch und nichtmuslimisch, zwischen rein und unrein? „Die Herzen kennt nur Allah. Wie kann da jemand entscheiden wollen, wer rein und wer unrein ist?“

Beim Abschied fragt Sahinöz: „Was meinen Sie, wie wird die Zukunft hier?“ – „Die optimistische oder die pessimistische Antwort?“ – „Die optimistische“, versetzt Sahinöz. „Wir müssen das doch zusammen hinbekommen, nicht wahr?“


Erschienen in Focus 39/2015, S. 52-58

Michael Klonovsky

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