Stationen

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Scheinmut und Scheinbedacht


20. 10. 2016 – Sind mit der ältesten Tochter für ein Buchmessenabendessen verabredet. Sie reist längere Strecken immer per Anhalter. Da ist Pünktlichkeit Glückssache. Dann ein Anruf von ihr: „Kam super durch. Jetzt steh ich an der Stadtgrenze Offenbach/Frankfurt. S-Bahn-Tunnel ist bis auf weiteres gesperrt. Angeblich Bombendrohung.“

Ich: „Na gut. Halte durch. Und: Laß dich bitte in kein Attentat verwickeln.“ Kubitschek ist begeistert. Das sei ein wahnsinnig guter Titel für ein Buchprojekt über naiv-besorgte Eltern. „Jetzt bloß nicht rumerzählen, sonst schnappt uns den jemand weg!“
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21. 10. 2016 – Lese in der taz, daß die Buchmessenleute den Junge-Freiheit-Stand wohl absichtlich umplaziert haben:
Die Frankfurter Messe setzt offenkundig auf inhaltliche Auseinandersetzung mit radikalen und extremistischen Positionen. Die Mitarbeiter der Jungen Freiheit blicken auf der Messe tagein, tagaus auf den geräumigen Stand der Amadeu Antonio Stiftung. Dort leuchten große gelbe Poster mit dem Slogan „Kein Ort für Nazis“.
Die Junge-Freiheit-Leute schauen auch auf die Panels des Comics „Drei Steine“ des Dortmunders Nils Oskamp, das die Stiftung nun mit einem didaktischen Teil versehen in einer neuen Fassung herausgebracht hat. Darin schildert der Ich-Erzähler Oskamps Gewalterfahrungen in den achtziger Jahren: „Ich sagte meine Meinung gegen Nazis, das hätte mich fast umgebracht.“
Meine Güte, wie verdammt cool ist das! Diese Assoziationskette JF- extremistisch-Nazis-fastumgebracht! Was nicht paßt, wird…

Die große Tochter tut sich um bei den Amadeus, die einen Mülleimer plaziert haben, aus dem einige Junge Freiheiten ragen. (Sie nennen es: Mut.) Die Mitarbeiter_ innen sind wahnsinnig freundlich und antworten auf die naive Tochterfrage, wie sich „das anfühle“, neben der JF plaziert zu sein, daß dies ja keineswegs unabsichtlich sei. „Du mußt wissen, die da [sie meinen in der Tat die JF] greifen Staatsknete in Riesenhöhe hab, da muß man schon Gesicht zeigen!“ Ich: „Und, was hast Du entgegnet?“ – „Ja. Blöd. Aber dazu ist mir echt nichts mehr eingefallen.“
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22. 10. 2016 – Meine eigenen Favoriten für den Deutschen Buchpreis 2016 standen leider nicht zur Debatte. Hätt‘ ich aus der sogenannten Shortlist wählen dürfen, ich hätte gesagt: Thomas Melle. Aber nein: Bodo Kirchhoff, uäh… Der gäbe freilich (rein ideologisch) ein schönes Paar ab mit der Gewinnerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Carolin Ehmke. Als olle Lookistin wundere ich mich nicht, daß Kirchhoff, der knapp Siebzigjährige, auf der Buchmesse dicksohlige Turnschuhe trägt.
Ich zitiere aus der FAZ vom 12. 10. 2016. Es geht in diesem Interview um den preisgekrönten Kirchhoff-Roman mit dem bedeutungsschwanger-gestelzten Titel Widerfahrnis und dessen Protagonisten Reither.
Kirchhoff: Als schließlich auch noch die junge Frau des Nigerianers mit ihrem Baby auf dem Arm auftaucht – als heilige Familie, wenn man so will –, ist das für Reither noch so ein Moment von Widerfahrnis. In diesem Augenblick beugt er sich endgültig dem, was ist, und nimmt die Gemeinschaft an.
Als Reither Leonie Palm kurz darauf durch Zufall am Bahnhof wiedertrifft, übergibt sie ihm den Schlüssel zu ihrer Wohnung. Sie sagt: „Lass sie in meine Wohnung.“
Kirchhoff: Das ist gleichbedeutend mit: „Lass sie in unser Land.“ „Widerfahrnis“ ist also nicht nur eine Geschichte über das Überleben, sondern auch über das Zulassen von Leben.
Sie erzählen von Reduktion und Fülle. Wer sagt uns, wann wir Fülle zulassen sollen und wann reduzieren?
Kirchhoff: Das ist die Frage! Wer sagt uns, wie weit wir die Grenzen öffnen sollen? Es ist die Geschichte mit der Obergrenze. „Widerfahrnis“ ist eine Parabel auf all das. Man kann das, was uns allen hier gerade widerfährt, nicht auf eine Zahl reduzieren, wie es die politisch-katholische Seite tut. Das ist für mein Gefühl zutiefst unchristlich. Merkels Vorgehen hingegen ist geradezu lutherisch, sie beugt sich der Größe des Faktischen durch eine Tat, die für mich eher privat als politisch motiviert war. Eine hochinteressante Sache, die bisher gar nicht so kommentiert wurde.
Haben Sie beim Schreiben von „Widerfahrnis“ eine Antwort auf die Frage gefunden: Wie weit sollen wir uns öffnen?
Ich habe erst einmal eine Sprache gefunden, um überhaupt über das, was gerade passiert, reden zu können. So dass auch ich etwas zu dieser außergewöhnlichen wie dramatischen Situation beitragen kann. Ich glaube schon, dass wir uns ändern werden. Dass wir uns ändern müssen. Auch als Land. Dieses Land kann nicht bleiben, wie es ist. Am Ende des Buches lässt Reither die Fülle zu.
Bedarf es einer gewissen Reife oder Einsicht, bis man sich traut, die Veränderungen anzunehmen?
Es bedarf einer tiefgreifenden, intimen Erfahrung. Die Liebe macht uns weich und durchlässig. Das ist eine Grundvoraussetzung, um überhaupt eine Veränderung zuzulassen, um das Neue oder scheinbar Fremde aufnehmen zu können.
Das Tragische ist ja, daß wir uns solche Äußerungen gar nicht mehr ohne sogleich herniederprasselnden Preisregen vorstellen können… Kirchhoffs letzten Satz abgewandelt und auch auf Ehmke bezogen: „Das leidenschaftliche Rennen durch scheunentorweit geöffnete Türen ist eine Grundvoraussetzung, um überhaupt als Preisträger zugelassen zu werden, um das Wohlfeile oder scheinbar Mutige Beton werden zu lassen.
22. Oktober 2016 – Auf dem Offenbacher Wochenmarkt (wie immer erstaunlich: 90% der Passanten in der restlichen Innenstadt sprechen fremde Sprachen bzw. haben fremdländische Gesichter; 95% der Wochenmarktbesucher aber sind waschechte Deutsche) hänge ich mit meiner kleinsten Tochter über dem Bottich mit den lebenden Forellen.
Der Geruch ist für mich das, was für Proust die teegetränkte Madeleine war: Odeur der Kindheit! Den sanften Schlag mit den Holzknüppel, der die Fische in einen anderen, nämlich leblosen Zustand versetzt, hab ich als Kind einhundertmal gesehen; Samstagvormittagserlebnis.
Wir suchen uns vier Forellen aus und dürfen mit ins Zelt, wo der Holzstock wartet. Der Händler wird die Fische gleich ausnehmen. Am Spülstein steht eine Metallschüssel mit Eingeweiden. Ein paar Tiere waren heute schon dran. „Guck, mal, wie das zappelt“, sagt die Tochter. Das sei ein Herz, bescheidet der Herr der Fische. Inmitten des Gekröses bläht es sich rhythmisch auf. Es dauert einige Minuten, bis unsere Forellen geöffnet, ausgenommen und gewaschen sind. Weitere Minuten, bis ich außerhalb des Zeltes an der Kasse mit dem zahlen dran bin.
Die Tochter bleibt im Zelt, über die Inneren gebeugt. „Guck mal, immer noch, als wär es lebendig!“ Es ist das gleiche Herz, das unverzagt zuckt und pulsiert. Es gehört zu keiner unserer Fische, der Restkörper dieses Herzens wird schon ziemlich lange durch Offenbach getragen. Ich habe unsere Vierforellentüte in der Hand. Auch darin tut sich noch ordentlich was. Herzlos, es sind nur die Flossen. „Ist witzig, gell, alles ist tot, unwiderruflich, aber Herz und Flossen tun noch, als wären sie lebendig!“, sag ich. „Mama! Das ist nicht witzig!“, korrigiert mich die Tochter. Sie hat ja recht. Kein Witz. Eine Allegorie.
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23. Oktober 2016 – Rückfahrt nach Schnellroda. Wir hören Agota Kristóf. Nach der ersten Erzählung wird es mir zu innerlich. Ich bin müde und nicke ein. Wache rasch wieder auf. Kubitschek ist schweigsam. Ich bekomme eine Art schlechtes Gewissen. Ist ihm die Kristóf so viel nähergegangen als mir? Bin ich eine gefühlstaube Pennerin? Behutsam frage ich, woran er denkt. „Na, immer noch daran: ‚Aber laß dich bitte in kein Attentat verwickeln.‘ So ein toller Titel. Kennen Sie die Geschichte von dem Mann, der einen Knopf fand und sich einen Mantel dazu nähen ließ? Ich überlege nun, wer das Buch zum Titel schreiben könnte.“ Ellen Kositza

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